Pionierzeit
1906-1926 "Pionierzeit"
Als Ende 1904 die Bergwerksgesellschaft Trier (1930 auf den Hoesch Köln Neuessener Bergwerksverein übergegangen; heute Hoesch AG.) den zum Ausbau ihrer Zechen notwendigen Grundbesitz in Bockum und Hövel käuflich erworben hatte, als 1906 die Schächte Radbod 1 und Radbod II, fast 700 Meter tief, abgeteuft waren, und am 16. November 1906 der erste Wagen Kohlen von Radbod abgesandt werden konnte, begann eine neue Zeit für Bockum und Hövel. Die Zechenkolonie Radbod entstand: schmucke Ein- und Zweifamilienhäuser mit etwas Gartenland herum, entworfen nach den Plänen von Baurat Siebold, Bethel, nach dem die Sieboldstraße in Bockum benannt ist. Aus allen Provinzen und Ländern unseres deutschen Vaterlandes wurden die Bergleute herbeigeholt, auch aus dem Ausland: aus Österreich, Ungarn, der Tschechei, aus Polen und Italien. Aus dem deutschen Vaterlande sind die meisten aus Ost- und Westpreußen, aus Schlesien, aus Sachsen und Bayern. Mit diesem Zugang von Arbeitern und Beamten im Jahre 1907 hielten auch zahlreiche Evangelische ihren Einzug. Sie von Lüdinghausen aus, wo sie zuständig waren, zu betreuen, war praktisch nicht möglich, so hielten sie sich zum benachbarten Hamm, jenseits der Lippe, das zum Regierungsbezirk Arnsberg gehört. Hamm hat sich diesem Werke brüderlicher Gemeinschaft treu und uneigennützig unterzogen. Pfarrer Wiehe schreibt in seiner leider nicht vollendeten „Geschichte der evangelischen Gemeinde Radbod":
„Nachdem die Zechenverwaltung ein Einfamilienhaus, Kaiserstraße 1 (heute Friedr.-Ebert-Str.), als Gottesdiensthaus eingerichtet und ausgestattet hatte und nachdem diese Notkirche durch den Superintendenten der Synode Hamm, D. Nelle, am 22. Dezember 1907 eingeweiht war, stellte die Gemeinde ihren Hilfsprediger Pastor Karl Niemann für die Arbeit in Radbod in der Weise zur Verfügung, daß er außer der allgemeinen Bedienung der Evangelischen jeden zweiten Sonntag den öffentlichen Gottesdienst hielt."
Die Zahl der Evangelischen im Juni 1908 betrug 800, die der evangelischen Schulkinder 131; sie wuchs im November des Jahres auf über 2000 mit über 250 Schulkindern. Am 1. Oktober 1908 wurden die beiden ersten evangelischen Lehrer Korff und Ostwinkel angestellt. 1911/12 kam es zur Errichtung der beiden evangelischen Schulen in Hövel und Bockum, nachdem vorher eine Baracke den ersten Dienst als Schule getan hatte. Zur Förderung der vermehrten Seelsorge verpflichtete sich die Zeche zur Zahlung des sogenannten „Häusergeldes"; sie überließ die Notkirche mietfrei, sorgte auf ihre Kosten für deren Beleuchtung, Heizung und Reinigung und für Abholung und Zurückbringung des Pastors bei den Gottesdienst- und Amtshandlungen.
Da traf die aufblühende Zeche und die junge Gemeinde jenes Bergmannsschicksal, wie es in solcher Härte und in solchem Ausmaß noch nie eine Bergmannsgemeinde in Deutschland getroffen hat: Am 12. November 1908, um 4 Uhr morgens, erfolgte eine Schlagwetterexplosion mit nachfolgendem Grubenbrand. Fast die ganze angefahrene Belegschaft des Schachtes fand ihren Untergang: 6 Beamte und 342 Arbeiter erlitten den Bergmannstod. Am Tage der Beerdigung der Verunglückten, am 16. November, sprachen von evangelischer Seite am Massengrabe der Generalsupertintendent der Provinz Westfalen, D. Zoellner, über Jesaja 45, Vers 15: „Du bist ein verborgener Gott, du Gott Israels, der Heiland", und der Superintendent des Kirchenkreises Hamm, D. Nelle, über Johannes 11, Vers 25 und 26.
Ein Ehrenfriedhof, in den sinnvoll später die Gefallenen des Weltkrieges der Gemeinde Hövel mit einbezogen sind, zwischen dem alten Kirchhof in Hövel und der heutigen Bürgermeisterwohnung birgt die Opfer. Es ist ein sinnvolles Denkmal, das Professor Müller, Braunschweig, im schmucken Grün geschaffen hat: in der Mitte überragend das Kreuz, links der betende Bergmann mit Grubenlampe und Spitzhacke, rechts die trauernde Mutter mit Tochter, auf Tafeln die Namen all der braven Bergleute, die an einen der schwärzesten Tage in der Geschichte des deutschen Bergbaues erinnern.
Nach dem Unglück stand die Kohlenförderung vorläufig still. Viele Arbeiter zogen fort. So ging auch die Zahl der Evangelischen stark zurück.
Infolge der äußerlichen und innerlichen Not, die das Grubenunglück gebracht hatte, wurde die Übersiedlung des Geistlichen von Hamm nach Radbod eine Notwendigkeit. So bezog denn Pastor Niemann am 1. Dezember 1908 eine Wohnung in der Kolonie, Hammer Straße 129, und später Rautenstrauchstraße 8, eine Steigerwohnung, die mietfrei überlassen wurde. - Damit begann ein geregeltes Gemeindeleben mit sonntäglichem Gottesdienst, regelmäßigem kirchlichen Unterricht und seelsorgerlicher Betreuung.
Am 28. März 1909 konnte die erste Konfirmation gefeiert werden. Vorher waren die kirchlichen Amtshandlungen in Hamm im Kirchenbuch eingetragen.
In Radbod beginnt das Totenregister der evangelischen Kirchengemeinde August 1907, das Trau- und Taufregister 1908, das Konfirmationsregister 1909. Zur Vertretung der noch nicht gesetzlich geordneten Gemeinde und zur Beratung der hervortretenden Fragen wurde, wie Pastor Wiche schreibt, eine „Spezial-Repräsentation von sechs Männern unter dem Vorsitz des Hilfsgeistlichen" bestellt. Es waren Markenkontrolleur Jung, Fahrsteiger Stenzel, Fahrhauer Görke, Schreinermeister Brockmann, Bergmann Malessa und Bergmann Lohsträter.
Ein Frauenverein entstand zur Unterstützung bedrängter Familien, ein Kirchenchor als Männergesangverein wurde gegründet, der sich später noch mancher Umformung unterzog. Der allgemeine Wunsch aber, daß die evangelische Gemeinde in der gesetzmäßigen Form gegründet werden möge, konnte damals noch nicht erfüllt werden.
Ein Zwischenfall, der von 1908 bis 1.910 die Gemeinde sehr beschäftigte und auf Anordnung der Regierung zur Umbettung zweier Evangelischer, eines Wandergesellen und eines Arbeiters, und zu ihrer Bestattung auf einem für die Evangelischen allgemein angewiesenen Teil des katholischen Friedhofs führte, hatte zur Folge, daß die evangelische Gemeinde nun völlig anerkannt wurde. Nachdem dieser Teil des Höveler Friedhofs inzwischen belegt ist, ist den Evangelischen auf einem angrenzenden neuerrichteten Friedhofsgelände heute eine ebenfalls würdige Beerdigungsstelle, auch besondere Erbbegräbnisstätte, zugewiesen. In Bockum befindet sich ein kommunaler Friedhof, auf dem die Evangelischen ebenfalls an besonderer Stelle würdig beerdigen können.
Von 1908 bis 1910 war als erster Küster der Gemeinde der Bergmann Wilhelm Schroth hier tätig, dessen Sohn Hermann 1908 mit verunglückte.
Im September 1910 siedelte Pastor Niemann nach Girkhausen (Kr. Wittgenstein) über, um dort eine Pfarrstelle zu übernehmen. Sein Nachfolger wurde am 8. Oktober 1910 Pastor Wilhelm Wiehe. Aus Brasilien zurückgekehrt, versah er als Hilfsprediger der Gemeinde Hamm die Gemeinde in Radbod. Er wohnte Hagenstraße 2 in einer Steigerwohnung. Der Wunsch der Gemeinde, selbständig zu werden, ging am 11. Juli 1911 in Erfüllung: Dieser Tag wurde der Tag der gesetzmäßigen Gründung der evangelischen Kirchengemeinde Radbod. Ihr Wirkungskreis ist das Amt Bockum-Hövel, kirchlich gehört sie zur Synode flamm. Am 26. Juli wurden 32 Repräsentanten gewählt, und zwar: Brockmann, Görke, Jung, Meier, Malessa, Sagray, Stapff, Stenzel, Badziong, Carrier, Dunker, Ebel, Eil, Forwick, Greilich, Hörenbaum, Hoffmann, Korff, Kuschnick, Kamplade, Klaus, Kikul, Müller, Ostwinkel, Reese, Reiser, Szelag, Steinbach, Schumacher, Witting, Will, Zubel. Von diesen wurden die ersten acht zu Mitgliedern des Presbyteriums gewählt. Die Ämter wurden so verteilt, daß Jung Kirchmeister, Brockmann, Görke, Meier und Stapff Älteste, Malessa; Sagray und Stenzel Diakone wurden. In der am 6. September 1911 erfolgten Pfarrwahl wurde Pastor Wiehe einstimmig zum Pfarrer gewählt und am 3. Dezember in sein Amt eingeführt.
Da die Seelenzahl der Gemeinde inzwischen auf etwa 3000 gestiegen war und die Notkirche, die nur 80 bis 100 Personen faßte, sich als zu klein erwies, mußte zum Bau einer Kirche geschritten werden.
Schon vor der Gründung der Gemeinde hatte sich ein Kirchbauverein unter Vorsitz von Direktor Andre gebildet und zugestimmt; die Zeche schenkte den Bauplatz am Zechenbusch und der Hammer Straße und gab ihrerseits 20 000 Mark dazu, so daß, als 60 000 Mark zur Verfügung standen, der Kirchbau nach den Plänen von Baurat Siebold, Bethel, in Angriff genommen werden konnte. Am 18. Februar 1912 konnte der Eckstein gelegt werden, und am 17. November 1912, nachdem Abschied von der Notkirche genommen war, wurde die schöne neue Kirche durch Generalsuperintendent D. Zoellner eingeweiht. Er legte seiner Ansprache 2. Korinther 13, Vers 13 zugrunde. Präses D. König sprach im Namen der Provinzialkirche über Johannes 10, Vers 27 bis 30, Superintendent D. Nelle hielt den Gottesdienst und Pfarrer Wiehe predigte über Psalm 26, Vers 3 bis 8.
Die Kirche ist im romanischen Stil erbaut. Ihre Formen sind von schlichter Einfachheit, edel und würdig. Der Altar war mit einem Orginalgemälde des Kirchenmalers Mause geschmückt, das die Emmausszene darstellt. Das Bild hat heute nach der Neuausmalung der Kirche seinen Platz im Konfirmandensaal gefunden. Kanzel und Taufstein sind das Werk des Schreinermeisters Karl Stratmann und seines Sohnes Wilhelm aus dem benachbarten Herringen und so liebevoll durchgearbeitet, daß Kenner ihre Bewunderung ausgesprochen haben. Die Altarbibel ist ein Geschenk der letzten deutschen Kaiserin Auguste Viktoria, die die Bibelstellen Hosea 6, Vers 1 und Jesaja 48, Vers 10 mit eigener Hand eingeschrieben hat. Die Glocken mit den Tönen g, e, cis waren aus Bronze, ein Werk der Glockengießerei Rimker in Sinn (Nassau). Sie mußten später, bis auf eine, im Kriege abgegeben werden. 1921 traten an ihre Stelle drei neue Gußstahlglocken in den Tönen d - f - as, hergestellt bei dem Bochumer Verein für Gußstahlfabrikation. Die hohe Glocke trägt die Inschrift: „In ernster Zeit dem Herrn geweiht, uns zur Seligkeit." Die mittlere: Jeremias 22, Vers 29: „O Land, Land, Land, höre des Herrn Wort." Die tiefe: Römer 12, Vers 12: „Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet."
Als Orgelaushilfe diente zunächst eine geliehene Orgel des Orgelbauers Klaßmeier in Kirchheide (Lippe). Ebenfalls im Jahre 1921 trat dann an ihre Stelle die heutige neue Orgel mit zwei Manualen, von der Firma Klaßmeier geliefert. Die Kirche bietet unter Einbeziehung des durch Rolläden abgetrennten Konfirmandensaales Platz für rund 1000 Personen. In den Grundstein der Kirche eingeschlossen ist die sogenannte „Radbodbibel", um die sich wohl manche Legende gebildet hat. Es ist eine Bibel, die beim Grubenunglück 1908 in einer Gezähkiste gefunden wurde. Der Eigentümer ist verschont geblieben, hat sich aber nie wieder gemeldet und ist später einem Grubenunfall zum Opfer gefallen. Beim Bau der Kirche wurde seine Bibel von der Zechenverwaltung erbeten.
Da der Pfarrer in einem Hause wohnte, das der Zeche gehörte, mußte nun auch zum Bau eines Pfarrhauses geschritten werden. Zu einem geringen Preise wurde ein Grundstück von der Größe eines Morgens neben dem Kirchengelände erworben. Architekt Honigmann auf Zeche „Baldur", einer Schwesteranlage von „Radbod", arbeitete einen Plan aus, der in den Jahren 1914/15 zur Ausführung gelangte. Im Juni 1915 konnte die Pfarrfamilie in das neue Pfarrhaus in Hövel, Hammer Straße 138, einziehen.
Den Organistendienst versah als erster Lehrer Ostwinkel; später nach seinem Weggang vorübergehend Fräulein Luise Wiehe.
Als erste Gemeindeschwester waltete Fräulein Toni Schenk im Herbst 1910 ihres Amtes. Sie bewohnte zwei Zimmer, Hammer Straße 129. Sie gehörte keinem Verbande an. An ihre Stelle trat 1911 die Diakonisse, Schwester Auguste, vom Wittener Diakonissenhause. Von da an haben mit kurzer Unterbrechung Münsterer und meist Wittener Schwestern bis heute den stillen treuen Dienst der Diakonie in der Gemeinde verrichtet. 1913 fand eine Kirchenvisitation durch Superintendent Nelle statt. Am 1. Februar 1913 wurde der Posaunenchor gegründet, dem auch Pfarrer Wiehe angehörte. 1915 trat ein Blaukreuzverein ins Leben; ebenso ein ostpreußischer Gebetsverein, der sich im Konfirmandensaal sammelte. Anfangs 1912 kam auch die Jungmädchenarbeit in der Form eines Jungfrauenvereins, verbunden mit einem Chor, in Gang und vorübergehend zu schöner Blüte. 1912 bestand ein Arbeiterverein mit 80 Mitgliedern. Alle kirchlichen Vereine benutzten den Konfirmandenraum der Kirche.
Ein sonntäglicher Kindergottesdienst kam bereits 1908 zustande, anfangs ohne, im Laufe der Zeit mit Gruppensystem. Am 1. Juni 1918 konnte endlich eine Kleinlinderschule (Kindergarten) ins Leben gerufen werden mit einer Beteiligung von mehr als 100 Kindern. Eine Bielefelder Schwester - Tante Anna, die heute noch als verheiratete Frau Meier in Hamm-Norden lebt - leitete ihn. Dieser Kindergarten war in der ehemaligen Notkirche untergebracht, die nach 1912 bis heute den Baptisten als Gottesdienstraum dient.
Das einschneidendste Ereignis dieser Zeit war für die Gemeinde der Weltkrieg 1914 bis 1918. Zu Anfang des Krieges waren über 700 Glieder der Gemeinde als Heerespflichtige eingezogen; 4 Presbyter und 8 Repräsentanten standen unter der Fahne.
Der Frauenverein bekam mit Stricken für die Soldaten viel Arbeit, mußte aber, als die Wolle zu teuer und die Mittel beschränkt wurden, dann aufhören. Mit der Beschenkung armer Familien zu Weihnachten, bedürftiger Konfirmanden zu Ostern, mit der Hilfe für Wöchnerinnen und der Verschickung von Mitgliedern in die Erholungsheime der Frauenhilfe hat er dann später ein großes Feld sozialer Betätigung gefunden. Im Jahre 1922 schloi3 er sich der Westfälischen Provinzialfrauenhilfe an.
Die Kriegsbetstunden konnten nur am Anfang des Krieges durchgeführt werden, wurden aber bald eingestellt und im August 1915 wiederaufgenommen. Sonntäglich fanden Lazarettgottesdienste statt.
Manches Unerfreuliche trat durch den Krieg zu Tage, wie Lockerung der Zucht, insbesondere der noch nicht militärpflichtigen Jugend, und Arbeitsversäumnisse; Rückgang der Kirchensteuer durch die Teilnahme vieler Männer am Kriege, so daß zum Beispiel 1916 der Kirchensteuersatz auf 68 Prozent heraufgesetzt werden mußte! Im Gefangenenlager wurde an den Evangelischen Seelsorge ausgeübt. Die Gesamtzahl der Kriegsgefallenen der evangelischen Gemeinde beträgt 100. Darunter ist der Repräsentant Friedrich Hörenbaum, der im Kriegslazarett La Capelle am 7. März 1918 einer Krankheit erlag. Zwei Ehrentafeln aus Eiche mit der Aufschrift: „Für uns starben 1914 bis 1918" wurden am Totensonntag, dem 22. November 1925, enthüllt. Sie haben nach jahrelangem Hängen im Altarraum nunmehr einen würdigen Platz in der Turmeingangshalle gefunden.
Das schmachvolle Ende des Krieges wirkte sich ungünstig auf unsere noch so junge und sowenig gefestigte Gemeinde aus. Die schon während des Krieges einsetzende Preissteigerung führte langsam zur Verarmung. Verachtung der Kirche und ihrer Handlungen nahmen zu. Seit November 1918 mehren sich die Kirchenaustritte. Durch Vergrößerung der Kolonie ist inzwischen die Seelenzahl, die sich auf 6000 beläuft, gestiegen. Das Verlangen nach Errichtung einer zweiten Pfarrstelle wird dringender, aber auch schwieriger die Durchführung. Die Zahl der Kinder, die am Religionsunterricht der Schule nicht teilnehmen, wurde immer größer. Auch die Zahl der Kinder, die mit Zustimmung der Eltern vom kirchlichen Unterricht fernblieb, wuchs. Am Tage der Konfirmation, Palmsonntag 1921, veranstaltete der Freidenkerverein in einem Wirtschaftssaal eine Konfirmationsersatzfeier, eine sogenannte „Jugendweihe" für die Kinder, die nicht konfirmiert wurden.
Die folgenden Jahre brachten die Entstehung der beiden weltlichen Schulen in Bockum in der Freiligrathstraße, in Hövel in der Talschule am Teich, in der die evangelische Schule mit der weltlichen unter einem Dache wohnte. Der Kampf war hart und schwer. Nur im jahrelangen zähen Ringen konnte eine Besserung der Lage der evangelischen Schulen eintreten. Evangelische Schule und evangelische Kirche, sie gehören ja in der Diaspora zusammen. Gar manche evangelische Lehrkraft hat sich in der Leitung des kirchlichen Vereinslebens zur Verfügung gestellt oder im Presbyterium und in der Gemeindevertretung mitgearbeitet. Das Organisten- und Chorleiteramt ist von Lehrern bekleidet; auch die jetzt 1400 Bände zählende Philipp-Melanchthon-Bücherei unserer Kirchengemeinde ist meistens von Lehrern geleitet worden.
Der Männerverein wandelte sich bereits am 17. November 1920 in einen Männer- und Jünglingsverein um, um von 1924 ab sich zu einem gesonderten Gemeindemännerverein (heute Männerdienst), der bald aufblühte, und einen Jugendverein weiterzuentwickeln. Evangelische Männer zogen in die Dorfparlamente ein, wurden Mitglieder in den Schuldeputationen, im Wohlfahrtsausschuß und sonstigen Ausschüssen der Kommune. Nach einem Synodalbericht vom Jahre 1925 betrug die Zahl der Evangelischen damals 7200 gegenüber rund 10 000 Katholiken und rund 1000 Freidenkern, zahlreichen Baptisten und auch Ernsten Bibelforschern, Neuapostolischen, Adventisten und Mormonen.
Am 1. Juli 1923 wurde Pastor Bastert als Hilfsprediger nach Radbod berufen. Am 1. Juni 1924 folgte ihm Pastor Pawlowski. Damit wurde endlich dem Pfarramt die Entlastung und die Hilfe zuteil, die bei der raschen, immer stürmischer werdenden Entwicklung der Gemeinde notwendig war.
Einen Höhepunkt im Gemeindeleben, wovon heute noch die Älteren der Gemeinde gern erzählen, bildete das Synodalfest für Innere Mission im Sommer 1924. Der Bericht sagt darüber: „Der Festzug bot ein großartiges Bild und war ein prachtvolles Bekenntnis evangelischer Glaubensfreudigkeit." Im Kirchwalde hielt Generalsuperintendent D. Zoellner eine packende, gewissenschärfende Ansprache und Pastor Köhler aus Sölde eine wirkungsvolle evangelistische Rede. Pastor Pawlowski wurde am 27. Juli 1924 durch Superintendent Zimmermann in der Radbodkirche ordiniert.
Die weltlichen Schulen büßten viel von ihrem Ansehen ein. Am 31. Oktober 1924 wurden die evangelischen Schulen zum erstenmal zu einer Reformationsfeier in der Kirche versammelt. Ein kirchliches Jugend- und Wohlfahrtsamt entstand in jener Zeit. Es hat in Jugendberatung, Jugendfürsorge und Jugendgerichtshilfe wertvolle Dienste geleistet.
Wiederum ein Wendepunkt in der Weiterentwicklung des Gemeindelebens war der Bau des so notwendig gewordenen Gemeindehauses, da ja der Konfirmandensaal sich dafür als viel zu klein erwies, Der Entwurf stammt von Architekt Kleinholz, Hövel. Am 27. September 1925 wurde in feierlicher Weise der Grundstein gelegt. Das Haus, das im Rohbau bald fertig stand, ein stattlicher zweistöckiger Bau, neben dem Pfarrhause gelegen, enthält einen großen Saal mit Bühne, darüber ein Bild: „Die Wartburg", von dem hiesigen Kunstmaler Götze, einen kleinen Saal, der dem Kindergarten zur Verfügung steht und jahrelang den Vereinen gedient hat, die jetzt im Erfrischungsraum tagen. Ferner: die Philipp-Melanchthon-Bücherei, die Hausmeisterwohnung, Gemeinschaftsräume für die jungen Männer und die jungen Mädchen, für die ehemalige Näh- und Handarbeitsschule, die Schwesternstation, zwei Räume, die an die Kreiskasse Lüdinghausen, Nebenstelle Hövel, vermietet sind, und eine Kegelbahn. Seit dem Jahre 1931 trägt das Haus den Namen „Gustav-Adolf-Haus", da der Gustav-Adolf-Verein in großzügiger Weise Mittel zur Verfügung gestellt hat und noch heute zur Schuldentilgung durch jährliche Beihilfen uns unterstützt. In der Beschaffung der Mittel zum Bau und im Hinweis auf die Notwendigkeit des Gemeindehauses ist Pastor Pawlowski unermüdlich gewesen. Auch der Kirchenchor hat durch Singen in der Provinz seinen Reinertrag dem Gustav-Adolf-Hause zufließen lassen.
Es sei bei dieser Gelegenheit der Verwaltungsarbeit der Tätigkeit des Kirchmeisters Herrn Kaufmann .Jung, später des Herrn Verwaltungsinspektors Läge gedacht; ebenso des oft recht schwierigen und verantwortungsvollen Amtes des Rendanten, das Herr Rechnungsführer Kamplade von 1911 bis 1933 bekleidet hat. Ebenso verdient erwähnt zu werden, daß Herr Bergassessor Stappf, der Mitglied des Presbyteriums war, von der Zeche aus in treuer Fürsorge für unsere Gemeinde gearbeitet hat.
Mitten in die Freude der Aufwärtsentwicklung der Gemeinde fiel 1926 ein bitterer Tropfen durch den auf der Zeche Radbod entstandenen Grubenbrand, der eine langdauernde Arbeitslosigkeit für unsere Gemeindeglieder und für die Kirchenkasse einen großen Ausfall bedeutete.
Erwin Lorentz